Gönderen Konu: Ort leben so viele Bürger türkischer Herkunft wie in Stadtallendorf  (Okunma sayýsý 7563 defa)

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selcuklu

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Männer gesucht – kräftig, ländlich und unverdorben

In kaum einem Ort leben so viele Bürger türkischer Herkunft wie in Stadtallendorf. Experten loben die Integration – und doch leben Deutsche und Einwanderer in eigenen Welten.

Eine Nummer bekam er zwar nicht mit Filzstift auf die Brust geschrieben wie manche seiner Landsleute. Aber den Mund musste er aufsperren, die Zähne blecken, dem aus Deutschland angereisten Personalchef und dem deutschen Arzt die Hände vorzeigen wie ein Kind. Güner Özbalkan aus dem hessischen Stadtallendorf erinnert sich bis heute gut daran, wie er vor 42 Jahren verschämt dastand in seiner Unterhose, vor ihm und neben ihm fast nackte Männer.
50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen
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Bei Schwielen an den Händen nickte der Personaler zufrieden, gepflegte Nägel behagten ihm weniger. Almanya brauchte schließlich tüchtige Arbeiter, keine Buchhalter oder Barbiere. Pro Person waren außerdem 300 D-Mark Vermittlungsgebühr fällig, das sollte sich lohnen. In die Pässe ploppten Stempel, dann ging’s per Sonderzug von Istanbul nach Deutschland.

November 1961
    Foto:  Türkische Bergarbeiter bei der Ankunft am Flughafen Düsseldorf

Mit deutscher Gründlichkeit setzte die Bundesrepublik vor 50 Jahren eine Völkerwanderung in Gang. Mit dem Anwerbeabkommen vom 30. Oktober 1961 wurden in der Türkei billige Arbeitskräfte geordert. Die Männer sollten nicht nur kräftig, sondern auch „ländlich und unverdorben“ sein, wie ein Personalchef aus Hessen meinte. Dann seien sie leichter einzusetzen. Manche Historiker meinen zwar, die Türkei habe die Bundesrepublik zum Anwerben gedrängt, um arbeitslose Bauern loszuwerden.

Andere sehen die USA als treibende Kraft, um die Türkei stärker in den Westen einzubinden. Fraglos aber konnte Deutschland die Menschen-Lieferungen gut gebrauchen. Ohne den Gastarbeiter-Treck wäre das Land heute ein anderes. In kaum einem anderen Ort wird das deutlicher als im ländlichen Industriezentrum Stadtallendorf in Mittelhessen.

Vorhof der Hölle

Dort also landete Güner Özbalkan am 21. April 1969 nach zwei langen Tagen im Zug. Der damals 24-Jährige hat ein viel zu höfliches Naturell, um es offen zu sagen, doch bei seiner Ankunft muss sich der junge Mann aus Izmir vom Ägäis-Strand vorgekommen sein wie im Vorhof der Hölle. Neben ein verträumtes Bauerndorf im bewaldeten Niemandsland östlich von Marburg hatten die Nazis 1938 die größte Sprengstoff-Fabrik Europas gebaut.

In 650 mit Baumbewuchs getarnten Bunkern ließen sie Torpedos, Bomben und Granaten füllen, bis zu 25.000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene hantierten mit gefährlicher Chemie, überwiegend mit TNT. Viel davon steckte noch Jahrzehnte später im Boden. Ein Marburger Experte warnte 1973, es müsse „ein Chemiker dabei sein, wenn die Post Telefonkabel verlegt“. Erst 2005 war der Boden saniert.

Stadtallendorf
    Katrin Binner Die Fatih-Moschee ist für Güner Özbalkan ein wichtiger Ort der Begegnung

Auf diesem schwer belasteten Fundament also, in denselben Dritte-Reich-Bunkern, auf denen bis heute die Tarnbäume wachsen, sollte Gastarbeiter Özbalkan das deutsche Wirtschaftswunder aufbauen helfen. Die Unterkunft in der Männerwohnbaracke „Ankara“ war katastrophal, es stank nach Eisengießerei und Schokoladenbrand. Und dennoch gelang das Vorhaben in gemeinsamer Mühe von Deutschen, Italienern, Türken und weiteren 65 Nationen: Stadtallendorf ist heute das wichtigste Industriezentrum der ganzen Region, es hat über 13.000 Arbeitsplätze und leidet kaum unter Arbeitslosigkeit.

Seit den 50er-Jahren füllt der Süßwarenkonzern Ferrero im größten Werk außerhalb von Italien seine Mon-Chérie-Praline, und die von einem Flüchtling gegründete Eisengießerei Fritz Winter baut mit 3700 Mitarbeitern Zylinderköpfe für Volkswagen, BMW oder Daimler. Zeitweise waren über 50 Prozent der Belegschaft Türken.

70 Prozent der 21.000 Einwohner mit Migrationshintergrund

Wie erst nach und nach klar wird, erlebte der abgelegene Landstrich dank der Gastarbeiter aber nicht nur einen Boom, sondern auch einen gigantischen, wenn auch unbeabsichtigten Feldversuch: Hier lässt sich beobachten, was geschieht, wenn entwurzelte Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen und Religionen plötzlich auf engstem Raum zusammenleben, wie sie sich mit der Zeit zusammenraufen und sich selbst nach Jahrzehnten dennoch fremd sind.

Nach Schätzungen des seit fast 30 Jahren im Amt befindlichen Bürgermeisters Manfred Vollmer (CDU) haben heute 70 Prozent der 21.000 Einwohner einen Migrationshintergrund. „Dafür, dass die Stadt außerdem viele Einwohner aus sozial eher schwachen und bildungsfernen Schichten hat, klappt es sehr gut mit dem Zusammenleben“, meint Karsten McGovern, als Dezernent beim Landkreis zuständig für Integration. Das bestätigt der Bensheimer Stadtplaner Markus Hirth, der den Ort beim Bund-Länder-Projekt „Soziale Stadt“ betreut.

  

Als Gastarbeiter nach "Almanya"

Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei vom 30. Oktober 1961 führte zum Beginn der türkischen Einwanderung. Während des Wirtschaftswunders in den 50er-Jahren war der Bedarf an Arbeitskräften in die Höhe geschnellt, es gab zu wenige Kräfte aus dem Inland.

Offene Jugendarbeit oder die Beschäftigung von Streetworkern hätten der Stadt gutgetan. „Ihren Bürgern ist gar nicht bewusst, was alle gemeinsam geleistet haben“, sagt Hirth. Es gebe kaum Verwahrlosung, Vandalismus und schwere Gewalt. „,Stell dir vor, Integration funktioniert, und keiner bemerkt es’, so könnte man Stadtallendorf beschreiben“, sagt Hirth.

Zwar warfen zwei betrunkene Fußballfans 2009 einen Brandsatz in die 2005 gebaute prächtige Moschee. Der Schaden war aber gering, und die Entschuldigung für die „idiotische Tat“ nahm der Moscheeverein umgehend an. Sie seien wegen einer Niederlage von Schalke frustriert gewesen - Sache erledigt.

Ihre Herkunft? "Türkei!"

Dennoch, die Tendenz, sich zu isolieren und in Gettos zurückzuziehen, sei selbst in dieser kleinen Stadt und ihrer räumlichen Enge nicht zu brechen, so Dezernent McGovern. Gerade hat er auch wieder erlebt, dass Grundschulkinder, deren Eltern sogar schon in Deutschland geboren waren, auf die Frage ihrer Herkunft „Türkei“ antworteten.

„Dass sich diese Kinder immer noch nicht als Deutsche fühlen, macht mir Sorge. Da müssen wir ran.“ Auch Aysel-Aydyn Söhret, die seit Mitte der 80er-Jahre Migranten in einer Sozialberatungsstelle betreut, sieht zwar einige hoffnungsvolle, aber nicht sehr ausgeprägte Anzeichen für mehr Durchlässigkeit. „Manchmal sitzen Mädchen mit Kopftuch zusammen im Café.“ Das hätte es bis vor Kurzem nicht gegeben.

Private Schülerfahrten in die Türkei

Güner Özbalkan, der Mann aus Izmir, kennt diese innere Zerrissenheit, der Stadt und von sich selbst. Anders als viele Gastarbeiter der ersten Generation hatte er die Realschule besucht und sprach sogar ein bisschen Englisch, als er ankam. Er, der sich in Deutschland weiterbilden wollte, hätte nie gedacht, dass er nach 40 Jahren an immer derselben deutschen Werkbank in Rente gehen würde.

Schon bevor durch seine Hochzeit klar wurde, dass er länger bleiben würde, startete er sein ganz persönliches Integrationsprojekt. Er plante als 25 Jahre alter Eisengießerei-Arbeiter mit türkischen Kollegen Müllsammelaktionen, um „ein gutes Bild in der Stadt abzugeben“. Später organisierte er jahrelang private Schülerfahrten in die Türkei.

Türkische Bürger opferten Gesundheit

Im ersten Jahr schon kaufte er einen Mercedes, seine drei Kinder, die er mit seiner deutschen Frau großzog, sind alle hervorragend ausgebildet. Vor dem Eigenheim mit Gartenteich steht eine polierte A-Klasse. Güner Özbalkan ist also das Musterbeispiel für gelungene Integration. Und doch wirkt der Rentner nach all den Jahren immer noch ein bisschen verwirrt, so, als begreife er selbst nicht so recht, was damals eigentlich geschehen ist und wie er an diesen bizarren Ort geraten konnte. Immer noch nicht fühlt er sich wirklich angekommen und angenommen. Wenigstens sein Grab soll in der Türkei liegen. „Damit meine Kinder hier keine Arbeit damit haben.“

Was ihm und vielen seiner Landsleute fehlt, ist Anerkennung. „Warum gibt es in der ganzen Stadt keine einzige Straße mit türkischem Namen?“, wundert er sich. Warum gebe es zwar Städtepartnerschaften mit dem britischen St. Ives, aber nicht mit Izmir? Auch Aysel-Aydyn Söhret bekommt diese Klage immer wieder zu hören. „Viele türkische Bürger sind alt und krank. Sie glauben, sie haben ihre Jugend und Gesundheit hier geopfert. Aber es dankt ihnen niemand.“

« Son Düzenleme: 29 Ekim 2011, 17:09:34 Gönderen: selcuklu »